Der Regierungsbeschluss über die Obergrenze und das Umschwenken der SPÖ ist ein Fanal der Kompromisse der SPÖ, das in keinster Weise sozialdemokratischen Grundsätzen entspricht. Nun aus der Obergrenze in der Argumentation einen „Richtwert, der rechtlich halten muss, eigentlich keine Obergrenze sein darf aber trotzdem eine ist“ zu machen offenbart, wie sehr man sich unter dem Druck einer ÖVP und populistischer ZuruferInnen von jeglicher Konsequenz, zumindest einige wenige menschenrechtliche Grundsätze einzuhalten, verabschiedet hat.
Das Renner-Institut verleiht alle zwei Jahre den Bruno-Kreisky-Preis für besondere Verdienste um die Menschenrechte und die SPÖ ist – so scheint es – darauf auch ganz besonders stolz. Gleichsam stolz bedient man sich, wenn es öffentlich und politisch opportun erscheint, dem historischen Erbe und den historischen Traditionen der Sozialdemokratie: Seien es der Kampf um die Rechte von ArbeiterInnen und Angestellten, die Rechte und die Gleichstellung von Frauen, die Rechte sozial Schwacher, die Februarereignisse 1934 oder der Widerstand gegen den NS-Terror. Diese Hintergründe der sozialdemokratischen Bewegung sind nicht einfach Historie oder etwas Starres, das sich lediglich in Geschichtsbüchern und in Gedenkzeremonien wiederfindet, sondern waren über lange Zeit hinweg identitätsstiftend. Dass die SPÖ heute in einer der schwersten Identitätskrisen der Zweiten Republik steckt, mag auch daran liegen, dass sich die genannten Faktoren ihrer Identität in der Realpolitik nur noch teilweise wiederfinden lassen.
Dass man nicht in jeder Hinsicht stur auf historisch gewachsenen Prinzipien beharren kann, ohne sich politisch zu isolieren, mag in manchen Debatten ja noch irgendwie verständlich sein. Dass Rückwärtsgewandtheit und das Beharren auf Grundsätzen bisweilen zu leeren Floskeln verkommen, liegt aber nicht daran, dass jahrzehntealte ideologische Prinzipien nichts mehr wert sind, sondern eher daran, ob wir fähig sind, sie zu modernisieren und damit auch in aktuellen politischen Debatten und Entscheidungen zu vertreten. All das vermissen nicht wenige Menschen in der SPÖ – auch und besonders an der vielzitierten und oft genannten Basis. Und zwar unabhängig von Alter, Einkommen, sozialem Status oder Bildungsgrad gibt es an dieser Basis Menschen, denen das verbindende Element der sozialdemokratischen Grundsätze viel wert ist.
Für eine Partei, die sich die Menschenrechte groß auf die Fahnen schreibt, ist es fatal, das Recht auf Asyl infrage zu stellen. Jetzt eine Obergrenze aka „Richtwert“ als vertretbar anzusehen fällt nicht mehr unter Opportunismus oder Kompromiss, sondern geht an die Grundsätze unserer Partei. Gewisse Dinge sollten, ja müssen als nicht verhandelbar gelten. Wenn man sich selbst ein Programm gibt, das auf Zuruf eines Regierungspartners, einer Oppositionspartei oder eines Teils grundsatzfreier PragmatikerInnen in der eigenen Partei für null und nichtig erklärt wird, ist die Krise der Sozialdemokratie noch verständlicher.
Dass ein klares Bekenntnis zu den mehr als hundert Jahre alten Grundsätzen der Sozialdemokratie noch immer funktioniert, hat sich im Wiener Wahlkampf erwiesen. Und auch in meiner eigenen Gemeinde. Natürlich haben Menschen Sorgen. Natürlich gibt es in der Bevölkerung Berührungsängste zu Flüchtlingen. Selbstverständlich löst Unsicherheit Ängste aus. Doch all das sind komplexe Gefühle, die nicht durch einfache und populistische Maßnahmen, die noch dazu der eigenen ideologischen Linie vollends widersprechen, gelöst werden können. Die wenigsten werden deswegen die SPÖ wählen, sondern fühlen sich noch mehr bestärkt, rechten PopulistInnen nachzulaufen. Sieht man sich die letzten Wahlergebnisse an, ist diese Erkenntnis auch nichts Neues.
Im täglichen Gespräch bekommt man den Eindruck, dass die Menschen sich schlicht klare Bekenntnisse wünschen. Das müssen und dürfen keine Bekenntnisse zu Obergrenzen sein. Es darf, es muss ein Bekenntnis zum Menschrecht Asyl sein. Die Menschen wünschen sich Information, Klarheit, Struktur. Diese Klarheit und Struktur muss in erster Linie durch jene vermittelt werden, die tagtäglich an und mit der Basis arbeiten. Entscheidungen wie die Obergrenze und das sukzessive Sägen an den ideologischen Grundsätzen sind vor allem für die Basis zutiefst verunsichernd. Bemühte man sich im Wahlkampf noch, für die Parteilinie einer Willkommenskultur zu laufen und zu argumentieren, befinden wir uns nun in einem Dilemma. Es ist unmöglich, für Menschenrechte zu argumentieren, wenn die eigene Bundespartei uns in dieser Frage in den Rücken fällt. Dass sich immer mehr Menschen, die sich der Sozialdemokratie zutiefst verbunden fühlen, frustriert abwenden und sie nur noch mit halbem Herz und Hirn vertreten, ist doch wohl allzu verständlich. Was übrig bleibt ist ein verheerendes Bild, das wir nach außen bieten.
Die Grundlagen der Sozialdemokratie sind Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Der auch von der SPÖ getragene Beschluss, Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen einzuführen, widerspricht jedem einzelnen dieser Grundsätze.
Mein Verständnis von Politik ist nicht, auf Zuruf populistische Forderungen umzusetzen und dabei jene auf der Strecke zu lassen, die sozialdemokratische Prinzipien nicht aus machtpolitischen Gründen opfern, sondern selbige in ihrer tagtäglichen Arbeit vertreten – auch, wenn es noch so anstrengend ist. Mein Verständnis von Politik ist nicht, den Leuten vorzugaukeln, dass es ihnen besser geht, indem man dazu beiträgt, dass Hilfsbedürftige einfach aus Österreich draußen gehalten werden.
Mein Verständnis von Politik ist, Überzeugungsarbeit im Sinne der eigenen ideologischen Grundsätze zu leisten. Auch wenn es mühsam ist. Mein Verständnis von Politik ist, Menschenrechte nicht durch gesetzliche Winkelzüge außer Kraft zu setzen. Mein Verständnis von Politik ist, Menschen Sicherheit in Krisenzeiten zu vermitteln anstatt Ängste noch weiter anzuheizen.
Man muss nicht lange in die Geschichte zurückblicken um zu sehen, dass diese Form der Politik in die falsche Richtung führt. Die SPÖ ist doch so stolz auf ihr antifaschistisches Erbe. Jene, die ihre Grundsätze vertraten – sei es in der Phase des Austrofaschismus oder von 1938 bis 1945 – werden bis heute als MärtyrerInnen der sozialdemokratischen Idee gefeiert. Bruno Kreisky selbst fand Zuflucht im schwedischen Exil. Zigtausende hatten dieses Glück nicht, weil auch damals Staaten ihre Schotten dichtmachten und jüdische Flüchtlinge abwiesen. Aus der eigenen Sicherheit und dem eigenen Wohlstand und Frieden heraus zu entscheiden, wer bleiben darf und wer nicht, ist einfach und bequem. Tatsächlich werden wir uns der unbequemen Wahrheit stellen müssen, dass die Entscheidung, Menschen an unseren Grenzen abzuweisen, zu Toten führen wird.
Dass nicht wenige innerhalb unserer Partei Obergrenzen und Richtwerte unterstützen und vertretbar finden ändert nichts daran, dass es gleichzeitig viele gibt, die das nicht tun. Und dazu gehöre auch ich. Politischer Opportunismus und Machtpolitik haben ihre Grenzen. Die Betroffenheit im Nachhinein von humanitären Katastrophen hat noch niemandem geholfen. Das Gedenken an die Opfer auch nicht. Gerade wir als österreichische SozialdemokratInnen sollten das wissen.
Dass diese Zeilen an getroffenen und noch zu treffenden Entscheidungen, die sozialdemokratischen Grundsätzen widersprechen, nichts ändern wird, ist mir bewusst. In diesem Bewusstsein dennoch zu mahnen sehe ich jedoch als meine Verantwortung als Sozialdemokratin.